Die heutige Zeit ist von einer ständig wachsenden Zahl chronisch kranker Menschen geprägt. Das vorherrschende ärztliche Denken und Handeln ist hier auf die Pathogenese der Erkrankungen gerichtet. Da die Ursachen der chronischen Erkrankungen in fast allen Fällen bisher weitgehend unklar oder unbekannt sind, werden oft nicht die Erkrankungen selbst, sondern ihre Folgen und Symptome behandelt. Eine Verbesserung dieser Situation kann nur durch Schwerpunktverlagerung der Therapiemöglichkeiten in Richtung einer Stabilisierung der Gesundheitund damit in Richtung Salutogenese erreicht werden.  

Ein Plädoyer für die Salutogenese 

In Deutschland werden jährlich ca. 210.000 „neue“ Hüftgelenke und ca. 175.000 „neue“ Kniegelenke erstmalig als Totalendoprothese operativ implantiert. Auf Ebene der Bundesländer unterscheidet sich die Operationsrate um  das 1,7-fache. Die  höchste Rate hat Bayern mit 260  Knie-Endoprothese-Implantationen pro 100.000  Einwohner. Dort ist die Wahrscheinlichkeit, eine Knieprothese zu erhalten, nach einer aktuellen Bertelsmann-Untersuchung um 70 % höher als in Berlin mit dagegen „nur“ 153 Endoprothese-Operationen pro 100.000 Einwohner. Das ist wohl kaum mit besonderer Erkrankungshäufigkeit der Bayern zu erklären.

Besonders auffällig ist die Zunahme bei den unter 60-Jährigen: 2016 bekam 31 % mehr Patienten aus dieser Altersgruppe ein künstliches Kniegelenk als noch 2009. Vor allem jüngere Patienten jedoch  haben ein hohes Risiko, dass das Gelenk  im Laufe des Lebens erneut und sogar  mehrfach ausgetauscht werden muss. Diese Revisionsoperationen sind komplikationsträchtig und können sehr belastend sein. Der Einsatz des ersten Kunstgelenkes sollte  daher solange wie möglich mit Hilfe konservativer Therapien herausgezögert werden.

Gleichzeitig werden zunehmend Schultergelenke, obere Sprunggelenke und Ellenbogengelenke durch Totalendoprothese ersetzt – Tendenz steigend! Hinzu kommt die überproportionale Zunahme  von Revisionsoperationen (Ersatz der TEP). Die Kosten- Explosion einerseits und das Ansteigen der Zahl von Patienten mit weiterhin bestehenden Schmerzen nach der TEP-Operation andererseits erfordern ein Umdenken. Damit stellt sich die Frage nach alternativen Therapiemöglichkeiten.

Prävention: biologische Eigenschaften und Belastbarkeit

Das Wissen zur Vermeidung von Arthrosen und Schmerzsyndromen steigt seit Jahren innerhalb der verschiedenen Wissenschaftsgebiete stetig. Doch setzen Haus- und Fachätzte dieses Wissen für die Prävention und später auch die Behandlung im beruflichen Umfeld, im Breiten- wie auch im Leistungssport konsequent ein? Widmen wir uns ausreichend dem von der WHO, der OECD und der EU erarbeiteten Konzepts der Salutogenese?

Es geht um die Abkehr von der Erforschung von Krankheiten hin zu begründeten Interventionen zur Entwicklung, Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit. Nur Gesunde trainieren erfolgreich und erreichen eine stabile hohe Leistungsfähigkeit!

Beratung Orthopäde Münster

Internistische Gesundheitsuntersuchungen der Organsysteme und des Stoffwechsels, der funktionelle orthopädisch-manuelle Status aller Körperregionen können Hinweise liefern, um früh auf Störungen des Wohlbefindens, des Stütz- und Bewegungsapparates und der Leistungsfähigkeit aufmerksam werden zu können. In diesem Zusammenhang sind auch Fragen der Ernährung und der täglichen Belastungen außerhalb des Sports (z.B. Schule, Ausbildung und Studium) und des beruflichen Umfeldes unverzichtbar.

Da der Entwicklungsweg von Arthrosen sehr lang ist, wird heute angenommen, dass die Grundlagen einerseits durch eine ungenügende Entwicklung der Knorpelstrukturen infolge Inaktivität oder andererseits durch chronisch über die Belastbarkeitsgrenzen gehende mechanische Belastungen bereits im Kindes- und Jugendalter gelegt werden. Aus dieser Sicht sind primäre Arthrosen Erkrankungen des ersten Lebensabschnittes.

Salutogenese

Ernährung ein wichtiger Faktor

Für die körperliche Entwicklung Jugendlicher und den Erhalt einer guten Leistungsfähigkeit Erwachsener ist die Bereitstellung aller Bausteine des Bau- und Funktionsstoffwechsels (Vitamine, Elektrolyte, Spurenelemente) erforderlich. Arbeitende und Trainierende haben wegen der gesteigerten Funktionen und des Ziels, die Körperstrukturen für die Leistung zu vermehren, einen erhöhten Bedarf an wertvoller Ernährung.

Prävention verlangt qualifizierte Aufklärung und persönliche Zuwendung!

Wir müssen also umdenken und uns auf unsere Ressourcen besinnen. Dazu gehört unter anderem, dass Vitamin C, Vitamin D3 und Omega-3-Fettsäure, Zink, Selen u.a. durch ihre hohe antioxidative Kapazität das Immunsystem stabilisieren und daß Sport den Kreislauf auf die notwendigen Touren bringt. All dies ist wissenschaftlich gesichert –  es hapert an der wirksam dosierten Umsetzung ! Hier ist „Wissen“ wichtiger als „Glauben“! Nach diesem Grundsatz agiert auch die Akademie für menschliche Medizin, in der sich die beiden Autoren –engagieren. Es ist die vornehmste Aufgabe ganzheitlich denkender Ärzt:innen (!) einen individuellen Status durch körperliche funktionelle Untersuchungen und Labordiagnostik zu erheben. Nur so können punktgenaue individuelle Vorschläge zur wirksamen Dosierung von gesundheitsrelevanten Vitaminen, Mineralien und eventuell Nahrungsergänzungsmitteln begründet werden.

Unsere Gesundheit ist verwundbarer als wir dachten!

Die Ernährung ist unsere wichtigste Medizin! Der Großteil der Immunabwehr wird aktiv aus dem Darm reguliert. Der bewusstere Umgang mit Lebensmitteln, nachhaltige Landwirtschaft und Umweltschutz ist unverzichtbar für eine stabile Gesundheit ! Mehr Qualität als minderwertige Masse – von den noch häufig inakzeptablen Produktionsbedingungen ganz zu schweigen!

Mensch Bestandteil einer „irdischen Biomasse“

Unbekannt war bis vor kurzem allerdings die Tatsache, dass der Mensch kein unabhängiges Lebewesen, sondern Bestandteil einer „irdischen Biomasse“ ist, mit der er ebenso wie mit der physikalischen Umwelt im ständigen Austausch steht. Diese Biomasse besteht – in evolutionärer Reihenfolge gelistet – aus Bakterien und Viren, Pflanzen, Tieren und letztendlich auch den Menschen. Der Austausch zwischen den verschiedenen Organismen vollzieht sich im Rahmen der Epigenetik, d. h. der Interaktion von Umwelteinflüssen aller Art mit unseren Genen, der in den Zellen verankerten Erbsubstanz. Dieses geniale, auf die spezielle Situation der Erde zugeschnittene System, hat sich über Milliarden von Jahren evolutionär entwickelt, zu immer komplexeren Lebensformen geführt und gipfelt in der Spezies Mensch.

Diese entwicklungsgeschichtliche Erkenntnis ist insofern von weitreichender Bedeutung, da der Mensch seine Umwelt, die Erde, die ihn unter definierten Bedingungen hervorgebracht hat, massiv verändert hat – ohne zu ahnen, dass er damit die Voraussetzungen für seine Existenz infrage stellt und den Ast absägt, auf den ihn die Evolution gesetzt hat. (Abb. 1)

Abb.1: Evolution des Lebens über Milliarden von Jahren und der zunehmende Einfluss des Menschen innerhalb der letzten 10.000 Jahre | copyright AAM

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Abb.1: Evolution des Lebens über Milliarden von Jahren und der zunehmende Einfluss des Menschen innerhalb der letzten 10.000 Jahre | copyright AAM

Startpunkt: Ackerbau und Viehzucht

Begonnen hat dieser Prozess noch relativ gemächlich vor rund 10.000 Jahren mit Ackerbau und Viehzucht. Im Rahmen des technischen Fortschrittes der letzten Jahrhunderte hat die Entwicklung jedoch erheblich an Fahrt aufgenommen und seit einigen Jahrzehnten einen Höhepunkt in der Raumfahrt gefunden. Es scheint, als ob die Natur uns nun ein Stoppschild gesetzt hat. Und zwar in Form der durch die WHO bezifferten aktuellen Katastrophe der epidemisch grassierenden Zivilisationskrankheiten. Und als wäre das nicht genug: Es steigen nicht nur die Zahlen der Betroffenen und Toten bei den schon vertrauten Weggefährten wie Diabetes, Herzinfarkt und Krebs, es kommen auch noch weitere Zivilisationskrankheiten hinzu. Besonders die früher als Geisteskrankheiten bezeichneten psychiatrischen und neurologischen nichtübertragbaren Erkrankungen wie Demenz, Depression und Schizophrenie haben Hochkonjunktur.

Während die immer noch reduktionistisch orientierte zeitgenössische Medizin fleißig an den Symptomen der verschiedenen Krankheiten herumwerkelt, ist inzwischen deutlich geworden, dass die Zivilisationskrankheiten ihren Namen zu Recht tragen: Sie sind die Folge des technischen Fortschrittes, auf den wir so stolz sind. Dieser Fortschritt führt jedoch nicht nur zu einer Verseuchung der natürlichen Umwelt mit toxischen Substanzen (Pestizide, Herbizide, endokrine Disruptoren und BPA sowie Blei, Aluminium und Quecksilber, um nur einige zu nennen), sondern auch zum Verlust zahlreicher natürlicher Ressourcen wie der Stille und dem Dunkel der Nacht, sauberem Wasser, der Sonnenexposition und Vitamin D, körperlicher Bewegung und guten sozialen Beziehungen – um auch hier nur einige Punkte zu nennen. Die Gesamtheit dieser Einflussfaktoren wird heute wissenschaftlich als sogenanntes „Exposom“ erforscht, wobei diese Forschung noch in den Kinderschuhen steckt. Für die Folgen dieser Veränderungen unserer Umwelt hat die von Prof. Spitz gegründete „Akademie für menschliche Medizin“ die Bezeichnung Natur-Defizit-Effekt geprägt.

Aus diesen Erkenntnissen und Zusammenhängen ergibt sich die brennende Frage, warum sich so viele Menschen falsch verhalten, obwohl einige der Eckdaten – zum Beispiel in Bezug auf Ernährung und Bewegung – nun sogar schon seit mehreren Jahrzehnten bekannt sind. Intensives Nachdenken macht offenkundig: Nicht das einzelne Individuum entscheidet sich falsch, es wird in eine Gesellschaft hineingeboren, die sich insgesamt fehlentwickelt hat.

Niemand, der auf die Welt kommt, bittet um einen sitzenden Arbeitsplatz in einem muffigen Büro, aber praktisch jeder bekommt einen. Niemand wünscht sich eine Wohnung über einem Fast Food-Restaurant, aber an jeder Ecke gibt es eines. Dies bedeutet, wir leben in einer Umwelt, in der eine Vielzahl von krankmachenden Faktoren auf uns lastet, denen sich der Einzelne nur schwer entziehen kann. Aus diesem Umstand erklärt sich auch die in den Untersuchungen immer wiederkehrende Zahl von lediglich etwa 10 Prozent der Bevölkerung, die sich nicht falsch verhalten. Doch für die Mehrheit nutzt auch alles Predigen nichts: Sich gegen den Mainstream zu stemmen halten eben 90 Prozent auf Dauer nicht durch. Und das Ergebnis ist offenkundig (Abb. 2).

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Abb. 2: Die moderne Um-/Lebenswelt als krankmachender Faktor (Zeichnung P. Ruge, Copyright AMM).

Salutogenese – Zeit für eine neue Gesundheitskultur

Diese bedrückenden Erkenntnisse bieten jedoch auch hoffnungsvolle Perspektiven. Angesichts der systemischen Zusammenhänge und der Bedürfnisse des Menschen lassen sich Konzepte entwickeln, die den Krankheits-Tsunami der Zivilisation überwinden können.  Die Inhalte dieser neuen Gesundheitskultur dürfen sich allerdings nicht mehr auf den Menschen beschränken, sondern müssen auch seine Um- und Lebenswelt berücksichtigen. Diese Sicht berücksichtigt neben den Interaktionen des Menschen mit der physikalischen Umwelt auch das Zusammenspiel mit allen dort vertretenen Lebewesen, seinen Symbionten in der Biomasse der Erde.

Spitzengesundheit

Abb. 3: Spitzen-Gesundheit durch eine neue Gesundheitskultur (Zeichnung P. Ruge, Copyright AMM).

Eine zunehmende Biologisierung der Medizin ist die die radikalste und einzig wirksame Antwort auf die enormen Herausforderungen durch die vielen altersbedingten muskuloskeletalen Erkrankungen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden. Eine kurative und präventive Medizin ist immer besser als eine rein symptombezogene Medizin. Allerdings ist beides nicht so einfach. Vor dem Hintergrund der Zivilisations – Krankheiten und der aktuellen Pandemie benötigen wir viel mehr qualifizierte Menschen in systemrelevanten Berufen mit emotionaler Intelligenz und Akzeptanz in der Gesellschaft!

Wir haben in dieser schicksalshaften Situation die Chance, unter Zurückstellung bisher gelebter Ungleichheiten gemeinsam und international unsere Zukunft auf dem Boden einer geschonten Umwelt und gesunder Lebens- und Verhaltensweisen günstig zu beeinflussen!

Ein Artikel von
Dr. med. Ulrich Frohberger | Zentrum für Orthopädie und regenerative Medizin
und Prof. Dr. Jörg Spitz | AAM